»Als die Mauer fiel, saß ich hochschwanger auf dem Sofa und schaute fassungslos auf die Bilder im Fernsehen. Ich habe mir keine Wiedervereinigung gewünscht, sondern einen Umbruch in der DDR. Leider wurde uns ein sehr fremdes System übergestülpt, mit allen Konsequenzen. Ich bekam nach der Geburt unseres Kindes noch für sieben Monate die volle Lohnfortzahlung, das „Babyjahr“, bis meine Institution aufgelöst wurde und ich ein Fall für das Arbeitsamt war. Was ich dort erlebte, würde ich mir heute nicht mehr gefallen lassen. Da saßen Personen, die plötzlich Macht über das Schicksal anderer Menschen hatten und diese Macht genussvoll auslebten. Mit zwei kleinen Kindern galt ich als nicht vermittelbar und fiel bald aus der Statistik. Wir lernten Situationen kennen, die wir uns nie hatten vorstellen können: Das Gehalt meines Mannes reichte kaum zum Überleben für vier Personen, war aber zu viel, um Anspruch auf Sozialhilfe oder Wohngeld zu haben. Ringsum erlebten wir, wie Menschen, die bis dahin erfolgreich im Beruf gewesen waren (auch ich), nichts mehr wert waren. Wir sahen plötzlich Leute auftauchen, die wenig Ahnung, aber viel Selbstbewusstsein hatten und uns erklären wollten, wie die Welt funktioniert.Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis sich unsere wirtschaftliche Situation so stabilisiert hatte, dass wir nicht mehr jeden Monat das Konto überziehen mussten.Heute geht es uns wirtschaftlich gut, aber wir sehen mit Sorge die Verwerfungen in der Gesellschaft, die ihre Wurzeln in dem unserer Meinung nach völlig überstürzten Beitritt zur BRD haben. Die Entsolidarisierung, der Neid, der Frust und die Gewalt – das sind alles Folgen der Phase, in der vielen Ostdeutschen ihre Identität einfach geraubt wurde. Vieles wurde einfach zerschlagen und wird heute mühsam und teuer wieder aufgebaut, weil es sich als gut erwiesen hat. Bertold Brecht hat gesagt, erst komme das Fressen, dann die Moral, und er hatte recht. Die ideelle Freiheit nützt den meisten Menschen wenig, wenn die materielle Freiheit fehlt. Und seien wir doch ehrlich: Der Großteil der Menschen, die damals über Ungarn oder die Botschaft in Prag abgehauen sind, wollte doch nur einen Golf, Bananen und nach Malle fliegen.Zurück möchte ich nicht, aber ich bin froh und dankbar dafür, dass ich in der DDR aufwachsen durfte und dort sozialisiert wurde, und ich blicke trotz Stasi-Opferakte nicht mit Bitterkeit zurück. Ich nutze die Chancen und Möglichkeiten, die sich mir heute bieten, engagiere mich vielfach ehrenamtlich, in der Flüchtlings- und Nachbarschaftshilfe, als Schöffe, in der Bürgerstiftung und in mehreren Vereinen.Und denke immer noch, dass es besser gewesen wäre, unser Land umzugestalten und dann zu schauen, ob und wann eine Vereinigung möglich gewesen wäre, eine Vereinigung, kein Beitritt, kein Überstülpen. Ein gleichberechtigtes Miteinander. Dann würde ich vielleicht heute nicht mehr erleben, dass Leute aus der alten BRD auf mich zukommen und gönnerhaft sagen: „Na, Ihr wart damals aber froh, als Ihr zur BRD gekommen seid, oder?“«