26. Etappe: Jena, Deutschland

Wir sind zurück in Jena. Unsere Reise durch Mittel- und Osteuropa ist zu Ende. Unsere Erfahrungen und Erlebnisse in einem Satz zusammenzufassen, ist unmöglich. Zu unterschiedlich und vielfältig waren die Orte und Menschen, die wir besucht haben. Eine Vielfalt, die nicht nur die Transformation in Europa in den letzten Jahrzehnten bestimmt, sondern auch die Arbeit eines Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation auszeichnen würde. 

Wir haben Orte besucht, an denen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus besonders deutlich werden und haben mit den unterschiedlichsten Menschen über ihre persönlichen Transformationserfahrungen gesprochen. Unser Ziel war es, mit „Kamera, Aufnahmegerät und einem Rucksack voller Fragen” in 10 Tagen Orte und Menschen in 10 Ländern zu besuchen. Am Ende haben wir in 14 Tagen 14 Länder bereist: Polen, Slowakei, Rumänien, Ukraine, Republik Moldau, inklusive der autonomen Republik Gagausien, Bulgarien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, inklusive der autonomen Republik Srpska und der Föderation Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Österreich, Ungarn, Tschechien, Deutschland. 

Vielfalt 

Insgesamt sind wir knapp 6.000 Kilometer gefahren, haben 20 Grenzen überquert, 26 Texte mit 72 Fotos veröffentlicht und unzählige spannende Gespräche geführt. Selbstredend war es uns in so kurzer Zeit nicht möglich, alle Länder in Mittel- und Osteuropa zu besuchen und auch unsere Berichte über die erreichten Orte und Menschen sind lediglich Ausschnitte, die einen Einblick in die Vielfalt der Menschen und ihre Geschichten geben – und in die möglichen Themenfelder in einem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena. 

Perspektive

Die Zukunft muss – auch angesichts der aktuellen Entwicklungen – aus einer europäischen Perspektive verstanden und gestaltet werden. Der Deutschen Einheit wie der europäischen Vereinigung können wir nur unter Berücksichtigung ihrer Vielfalt und Heterogenität gerecht werden. Immer wieder sind nicht die Unterschiede die Ursache des Problems, sondern das mangelnde gegenseitige Verständnis. 

Zum Ende unserer Reise beginnt etwas Neues: Noch heute wird unsere Kampagne für die Bewerbung der Stadt Jena und der Friedrich-Schiller-Universität für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation gestartet. Eine Kampagne, die erst durch Ihre und Eure Beteiligung mit Leben gefüllt werden wird. 

Text: Tobias Schwessinger 

Foto: Christian Faludi

25. Etappe: Deutsche Botschaft Prag, Tschechien

1989 bekam der Eiserne Vorhang immer mehr Löcher, und die Menschen wurden immer wagemutiger. Die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Prag, Warschau, Budapest oder auch Ost-Berlin wurden in den 80er Jahren zu einem Ort für viele Flüchtende. Hier hofften die Menschen – immer wieder erfolgreich – auf die Möglichkeit der Ausreise in die BRD. Im August 1989 strömten etliche Menschen auf das Gelände der Botschaft in Prag, die schnell an ihre Kapazitätsgrenzen gelangte. In der Spitze campierten hier im Herbst rund 4.000 Männer, Frauen und Kinder auf der Wiese vor dem Gebäude unter teils katastrophalen Bedingungen. In den Straßen um die Botschaft parkten unzählige verlassene Fahrzeuge mit ostdeutschen Kennzeichen. 

Die erfolgreichen Verhandlungen über die Ausreise der Flüchtenden führte Hans-Dietrich Genscher – der erst kurz zuvor genesen aus dem Krankenhaus entlassen worden war – mit Eduard Schewardnadse, Oskar Fischer und Jaromír Johanes am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Am 30. September landete er in Prag, verwehrte den Journalisten jede Auskunft und sprach die berühmten, im Jubel der Menschen untergehenden Worte, vom Balkon aus direkt zu den Geflüchteten.  

Während die Menschen in abgeriegelten Zügen und unter dem Schutz westdeutscher Diplomaten über Dresden und Karl-Marx-Stadt nach Hof ausreisen durften, flohen erneut Tausende DDR-Bürger:innen auf das Gelände der Botschaft. Auch sie konnten ausreisen. Am 3. November um 21 Uhr öffnete Tschechien seine Grenzen vollständig. Der Eiserne Vorhang öffnete sich. 

Die Bilder vor der Ausreise sind noch heute aktuell

Wir werden in der Deutschen Botschaft in Prag von Martin Sielmann, dem Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, empfangen. Er führt uns durch das Gelände und erzählt, was hier im Sommer 1989 geschehen ist. Er selbst war bereits damals beim Auswärtigen Amt beschäftigt – zu der Zeit in Bonn – und hat den Zusammenbruch des Staatssozialismus als Diplomat miterlebt.  

Uns erinnern die Bilder der campierenden Geflüchteten im Park der Botschaft an unsere vorherigen Stationen, etwa in Sopron, aber auch am Grenzzaun an der slowenischen Grenze und auch an aktuelle Bilder aus Flüchtlingscamps. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt flüchten vor Armut, Unterdrückung und Verfolgung. In einem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena könnte sich über Flucht und Migration – damals wie heute – ausgetauscht und gemeinsame Erfahrungen geteilt werden. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

24. Etappe: Prager Frühling und Samtene Revolution, Tschechien

Demokratische Proteste und ihre Geschichte werden zweifellos ein wesentlicher Bestandteil des Zukunftszentrums in Jena sein. Auch auf unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa werden wir immer wieder mit diesem Thema konfrontiert. Dabei verdichten sich die Geschichten in Prags Mitte wie an kaum einer anderen Stelle. 

Der Wenzelsplatz ist historisch wie aktuell ein Ort des demokratischen Protestes. Ereignisgeschichtlich herausragend für die Bürger in der DDR war der Prager Frühling 1968 ein Erlebnis, das zunächst zahllose Hoffnungen auf eine Liberalisierung der staatlichen Systeme im Warschauer Pakt laut werden ließ, und nach der blutigen Niederschlagung in allgemeine Lethargie verfallen ließ. 

Heute sind die Spuren am Ort des Geschehens vor allem mit dem Namen Jan Palach verbunden. Der tschechische Student wählte rund fünf Monate nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Rücknahme der Reformen, eine extreme Form des Protestes, als er sich am Morgen des 19. Januar 1969 an den Stufen des Nationalmuseums mit Benzin übergoss, anzündete und auf den Wenzelsplatz rannte. Nur wenige Stunden später versammelten sich spontan rund 200.000 Menschen zu einer Demonstration. Palach wurde zu einer Märtyrerfigur des Widerstandes. 

Demokratische Proteste als wichtiger Bestandteil

Zwanzig Jahre nach den Ereignissen wurde der Wenzelsplatz erneut zum Zentrum des Protestes während der Samtenen Revolution. Am Höhepunkt der Demonstrationen kamen hier Ende November 1989 rund 800.000 Menschen zusammen und forderten den Rücktritt des Politbüros.  

Der Besuch des Ortes vermittelt uns einen Eindruck vom Geschehen, und er erinnert uns an die zahlreichen Stätten historischer Proteste in Ostdeutschland, wie auch darüber hinaus, die im Jenaer Zukunftszentrum-Netzwerk verbunden werden sollen. 

Den Hinweis auf die Geschichte Jan Palachs gab Vojtěch Kyncl. Der Historiker hat unter anderem in Jena studiert und ist heute Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Prag, die zum Netzwerk des Zukunftszentrums gehören soll. Im Vorgespräch mit ihm wurde deutlich, wie wichtig es ist, diese Verbindungen auszubauen, um auch die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit zu bewahren. In Tschechien, erklärt Vojtech, wurde diese Freiheit jüngst massiv bedroht. 

Text und Fotos: Christian Faludi

23. Etappe: Paneuropäisches Picknick, Ungarn/Österreich 

Bereits Monate bevor die Grenzen am 9. November in Berlin geöffnet wurden, durchbrachen DDR-Bürger anlässlich des Paneuropäischen Picknicks am 19. August ein Grenztor an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron. Ihnen folgten mehrere Wellen Flüchtender. Insgesamt wagten an diesem Tag bis zu 700 DDR-Bürger:innen den Grenzübertritt. 

Das Paneuropäische Picknick war Teil der Prozesskette, die im Jahr 1989 zum Fall der Berliner Mauer führte. Auch wenn seine tatsächliche Relevanz oft überschätzt wird, die politischen Ereignisse in Ungarn in den Jahren vor 1989 sind für den Fall des Eisernen Vorhangs und damit auch für den Transformationsprozess in Ostdeutschland ein zentraler Bestandteil.  

Ungarn war weitaus liberaler als etwa die DDR oder ČSSR. An den Stränden des Balaton trafen sich west- und ostdeutsche Urlauber. 1988 teilte das Land den sogenannten Weltpass an seine Bürger:innen aus, mit dem diese international frei reisen konnte. 1989 trat Ungarn als erstes Land des Warschauer Pakts der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Bereits Monate vor dem Paneuropäischen Picknick begann Ungarn den Grenzzaun nach Österreich abzubauen. Die Instandsetzung war der Regierung schlichtweg zu teuer. 

Derweil gründeten sich Demokratische Foren. In ihnen entstand die Idee eines Paneuropäischen Picknicks, einer symbolischen Öffnung der Grenze. Mit dieser wollten die Oppositionellen testen, wie weit sie gehen könnten, bevor die sowjetische Armee einschreiten würde. Schließlich stand trotz aller Entwicklungen die Befürchtung im Raum, dass sich die Ereignisse von 1956 wiederholen könnten.  

Flugzettel wurden verteilt, auch an DDR-Urlauber am Balaton. Etliche verstanden die Botschaft und machten sich auf dem Weg nach Sopron. Den Durchbruch wagte hingegen nur ein Bruchteil. Schließlich war die Gefahr längst nicht gebannt. Am 20. August 1989 wurde der Weimarer Architekt Kurt-Werner Schulz beim Versuch des Grenzübertritts nahe Sopron erschossen. Er war das letzte Todesopfer des Kalten Krieges.  

An der Ungarisch-Österreichischen Grenze treffen wir Wolfgang Bachkönig. Er war 1989 Polizist der Republik Österreich und hat die Ereignisse miterlebt. Am Ort des Geschehens berichtet er, wie Ungarn und Österreicher damals gemeinsam geholfen haben. Diese Solidarität und Verbundenheit ist es, auf die eine Europäische Transformation – und ein Zukunftszentrum in Jena – aufbauen müssen.  

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

22. Etappe: Grenzzaun, Kroatien/Slowenien 

Im Jahr 2015 flohen über 760.000 Menschen auf verschiedenen Balkanrouten unter inhumanen Bedingungen von der Türkei über Griechenland nach Zentraleuropa. Die meisten Länder in Südosteuropa blieben dabei Durchgangsstation; in den wenigsten wurden die Geflüchteten entsprechend registriert. Als Reaktion darauf errichtete Slowenien einen über 200 Kilometer langen und bis zu vier Meter hohen Grenzzaun. Seit einigen Wochen wird die Barriere auf Bestreben der neuen Regierung wieder abgebaut. Wer vor dem Regierungswechsel gegen den Zaun aktiv geworden war, konnte mit bis zu fünf Jahren Haft belangt werden. 

Wir fahren beinahe allein auf Serpentinen durch die friedliche Berglandschaft im kroatisch-slowenischem Grenzgebiet nordwestlich von Zagreb. Auf unserer Reise haben wir bislang viele, mitunter gut bewachte Grenzen überquert. Manche davon waren auch für uns nur mit Mühe überwindbar. Mit einem drei bis vier Meter hohen Stacheldrahtzaun mitten in der Europäischen Union, im Schengenraum, der den freien Übertritt ins Ausland erleichtern soll, an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien, rechnet allerdings niemand mehr – auch wir nicht. Aber er existiert, wenngleich das Tor, das wir passieren, mittlerweile wieder offensteht.  

Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass noch vor wenigen Jahren abertausende Menschen über diese Berge liefen – getrieben von Armut und Krieg. Aber die Fluchtbewegungen in Richtung Zentraleuropa werden aus vielfältigen Gründen auch in der Zukunft weitergehen. Und während der slowenische Grenzzaun demnächst wieder zurückgebaut werden wird, errichten Länder an anderer Stelle in der Europäischen Union neue Barrieren. So kündigte etwa Ungarn jüngst an, den Zaun an der serbischen Grenze zu verstärken und eine ‘Grenzjäger’-Einheit zu bilden, die Übertritte verhindert. 

Ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena muss sich auch der jüngeren Transformationsgeschichte annehmen, die durch Migrations- und Fluchtbewegungen bestimmt ist. Zudem muss es den Kontakt zu den betroffenen Menschen suchen, um auf Basis vielfältiger Erfahrungen nach gemeinsamen Lösungen für die Herausforderungen unserer Zukunft zu suchen. Und es muss den Dialog fördern zwischen Menschen, die bei uns leben und denen, die zu uns kommen. Eine Brücke können hierbei die zahlreichen Fluchtgeschichten ehemaliger DDR-Bürger sein. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Foto: Christian Faludi 

21. Etappe: Gedenkstätte Jasenovac, Kroatien

Im engeren Sinne sind die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Shoah kein Thema, das unmittelbar im Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation eine Rolle spielt. Aus erinnerungskultureller wie auch erinnerungspolitischer Perspektive kommen wir an der Gedenkstättenarbeit in Ost- und Mitteleuropa aber nicht vorbei. Das wird insbesondere auf dem Balkan deutlich, dessen lange Konfliktgeschichte bis heute nachwirkt. Und so ist es nur konsequent, dass wir auf unserem Weg durch Kroatien die Gedenkstätte Jasenovac besuchen. 

Das KZ Jasenovac war das größte, während des Zweiten Weltkrieges vom Ustascha-Regime gebaute und unabhängig von Deutschland betriebene Lager auf dem Gebiet des Unabhängigen Kroatiens. Die hierhin Deportierten gehörten zumeist der serbischen Bevölkerung an, hinzu kamen Rom:nja, jüdische Menschen sowie andere Minderheiten, vereinzelt wurden auch bosnische wie kroatische Regimegegner:innen nach Jasenovac verschleppt. Bis 1945 verloren in dem Konzentrationslager mehr als 80.000 Menschen ihr Leben. 

Zwischen 1959 und 1966 entstand auf dem Gelände ein imposantes Denkmal des Bildhauers Bogdan Bogdanović in Form einer gigantischen Lotusblüte. Zwei Jahre später eröffnete hier ein Museum. Seither sammelt die Gedenkstätte Material, betreut Denkmäler weiterer Ustascha-Lager und arbeitet mit Jugendlichen im Bereich der historisch-politischen Bildung.  

Die Gedenkstättenarbeit verbindet Menschen an den zahlreichen Schauplätzen der Shoah in Ost- und Mitteleuropa. Und sie zeigt, welche Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen, um die Erkenntnisse für die Gestaltung unserer Demokratien nutzbar zu machen. 

Text und Fotos: Christian Faludi 

20. Etappe: Republik Srpska, Bosnien-Herzegowina

Die Republik Srpska ist ein nach (vollständiger) Autonomie bzw. nach Angliederung an das Nachbarland Serbien strebender Gliedstaat im System des Staatenverbundes von Bosnien und Herzegowina. Laut Verfassung befindet sich seine Hauptstadt in Sarajevo. Tatsächlich bildet Banja Luka im Norden das politische Zentrum der Republik Srpska. Hier sitzen das Parlament, die Regierung und der Ministerpräsident. Mehr als 80 Prozent der Einwohner sind Serben, rund 14 Prozent sind Bosniaken. Hinzu kommen zu circa 5 Prozent Kroaten und weitere Minderheiten. 

Die Besonderheit des bosnischen Staatenverbundes ist ein Produkt der Transformation Jugoslawiens und der darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen sich in diesem Landesteil Serben, Kroaten und Bosniaken bekämpften. Beigelegt wurde der Konflikt im Vertrag von Dayton 1995, durch den zwei Entitäten unter dem Dach eines Staatenbundes entstanden: Die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republik Srpska. Beide teilen sich das Staatsgebiet zu fast gleichen Teilen, wobei stark von sogenannten ethnischen Säuberungen betroffene Landesteile wie Srebrenica auf dem Teil Srpskas liegen. Hinzu kommt mit dem Brčko-Distrikt eine de facto selbstverwaltete Zone im Nordosten des Landes. 

Wenngleich die Bevölkerungsgruppen der Bosniaken und Serben in ihrem Staatenverbund mit derselben Währung, der Konvertiblen Mark, bezahlen und die Autos dasselbe Symbole auf ihren Kennzeichen haben, sind die Trennlinien zwischen beiden Entitäten deutlich sichtbar. So säumen nicht nur allein die Flaggen in den serbischen Nationalfarben allerorten das Straßenbild der Republik Srpska, das Land hat auch eine eigene Hymne nebst Wappen und mit dem zumeist verwendetem Kyrillischen sogar eine eigene Schrift.  

Auf politischer Ebene dominierte lange Zeit nach dem Krieg die radikal-nationalistische Srpska Demokratska Stranka (Serbische Demokratische Partei) das Geschehen. Zuletzt forderte diese 2008 ein Referendum zur Loslösung der Republik Srpska. Ende des vergangenen Jahres nahmen die separatistischen Bestrebungen erneut Fahrt auf. Unter anderem beschloss das von serbischen Interessen dominierte Parlament in Banja Luka im Dezember die Abkopplung des Landes aus dem Justiz- und Steuersystems sowie aus der Armee des Staatenverbundes von Bosnien und Herzegowina. 

Text & Foto: Christian Faludi

19. Etappe: Dubica, Bosnien-Herzegowina

Als ich Edina und Edita in der Innenstadt von Dubica treffe, stehe ich noch unter den Eindrücken in Srebrenica. Editha nimmt das unmittelbar zum Anlass, sich „zu beschweren“, dass wir zu wenig auf die positiven Entwicklungen im Land blicken. Und so erzählt sie mir etwa davon, dass der bosniakische Sohn einer Freundin unlängst in Srebrenica eine Musikschule eröffnet hat, in die Kinder aller Bevölkerungsteile kommen, zusammen musizieren und Fahrten ins Ausland machen.  

Während unseres Spaziergangs durch das Städtchen berichten beide viele solcher Geschichten, und sie lachen sehr oft. Das ist wohl dieser Optimismus, den es braucht, um hierhin zurückzukehren und das Martyrium zurückzulassen, das beide erleben mussten. Schließlich handeln ihre Fluchtgeschichten (wie so viele andere auch) vom anfänglichen Unglauben darüber, dass ein Krieg zu ihnen kommen könne – bis die örtliche Brücke Richtung Kroatien gesprengt worden ist. Sie handeln von dem Ringen um eine Ausreise aus der Heimat und von der Angst in vollgepferchten Bussen, in denen Soldaten den Menschen ihren Schmuck stehlen. Und sie handeln von einer langen Odyssee, die sie nach Deutschland brachte, wo sie nicht nur auf Menschen trafen, die helfen wollten. 

Auf die Frage, ob sie den glücklich mit der Entscheidung sind, wieder in die Heimat zurückgekehrt zu sein, antworten beide entschieden mit ja. Aber das alles sei es Wert, in Kauf genommen zu werden, um in der Heimat zu leben. Der Wunsch beider Schwestern ist es, dass ihr Land geeint wird und alle Bevölkerungsteile die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben. Im Moment scheinen sie davon noch weit entfernt zu sein. 

Text & Foto: Christian Faludi

18. Etappe: Massaker von Srebrenica, Bosnien-Herzegowina

Das Massaker von Srebrenica gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 8.000 Bosniaken, vor allem Männer und Jungen, wurden von der Armee der Republik Srpska unter der Führung von Ratko Mladić ermordet. Die unmittelbar in das Geschehen involvierten holländischen Blauhelm-Soldaten verhinderten die Morde nicht. 

Heute besuchen wir das Srebrenica Memorial Center in Bosnien-Herzegowina. Dort begrüßt uns die Gedenkstättenmitarbeiterin Almasa Salihović. Sie erzählt uns von den Verbrechen der Armee der Republika Srspka in und um Srebrenica: Als die bosnisch-serbischen Truppen vom 6. bis 11. Juli 1995 in die Schutzzone der UNOPROFOR-Einheiten einmarschierten und Srebrenica besetzten, flohen rund 25.000 Bosniaken nach Potočari und suchten bei den Blauhelm-Soldaten Schutz. Insbesondere die jungen Männer fürchteten jedoch auch hier ihre Ermordung. Sie planten, gemeinsam mit den älteren und einigen Frauen und Kindern, ihre Flucht durch die Wälder Richtung Tuzla in bosniakisch kontrolliertes Gebiet. Der Zug mit geschätzt 10.000 bis 15.000 Flüchtenden setzte sich in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli in Bewegung. Lediglich ein Drittel gelangte in sicheres Terrain. Die Anderen wurden in Hinterhalten – bei denen die bosnisch-serbischen Einheiten sich teils als UN-Soldaten ausgaben – direkt erschossen oder gefangen genommen und anschließend ermordet. 

In Potočari wurden die bosnischen Flüchtlinge in Bussen in evakuiert, wobei die bosnisch-serbischen Truppen die Männer – unter ihnen auch viele Jungen – selektierten und ebenfalls ermordeten. Die Verbrechen wurden anschließend systematisch vertuscht, indem die Leichen, mitunter in Einzelteilen, an verschiedenen Orten in Massegräbern verscharrt wurden. Bis heute werden die gefundenen Überreste anhand von DNA-Proben identifiziert und auf dem angrenzenden Friedhof bestattet. Die Angehörigen können oft nur einzelne Teile der Körper ihrer Familienmitglieder begraben. Werden neue Teile gefunden, werden die Gräber auf Wunsch wieder geöffnet. Viele Menschen werden bis heute vermisst. Zahlreiche Angehörige sind nach wie vor auf der Suche nach ihren Familienmitgliedern. 

Almasa erzählt uns, dass in der Republik Srpska und in Serbien der Genozid bis heute weitgehend geleugnet wird, und welchen Schmerz diese Ignoranz für die Angehörigen und Mitarbeitenden der Gedenkstätte – die sich in mehrheitlich von Serben bewohntem Gebiet befindet – bedeutet. Besonders in den sozialen Medien verbreitete Falschinformationen bereiten ihr aktuell große Sorgen. Nicht ohne Grund wird das Areal auch ständig von Polizisten bewacht. Um Barrieren abzubauen und zugleich die Geschichte zu dokumentieren, sammelt Almasa mit ihren Kolleg:innen in einem Oral-History-Archiv Interviews von Zeug:innen und gibt ihnen die Gelegenheit, die Lebensläufe der ermordeten Familienmitglieder zu erzählen. Die Gedenkstätte ist auf der Suche nach Partnern und finanzieller Unterstützung, um ihre Arbeit fortzusetzen (https://srebrenicamemorial.org/en). Ein Zukunftszentrum in Jena kann sowohl wissenschaftlich unterstützen als auch von den gesammelten Quellen profitieren. Einer Kooperation steht man in Srebrenica offen gegenüber. 

Unter dem Eindruck der Erzählungen Almasas erkunden wir anschließend das Areal mit seinen bemerkenswerten Ausstellungen, die unter anderem in den Hallen einer ehemaligen Batteriefabrik untergebracht sind. Auf dem Friedhof treffen wir ein Paar aus Deutschland und kommen kurz ins Gespräch. Sie stammt von hier, floh während des Massakers und sucht jetzt – 27 Jahre später – auf der Gedenkmauer nach dem Namen ihres ermordeten Bruders. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi

17. Etappe: Bombardierung Belgrad, Serbien

Nach unserem Besuch im Museum Jugoslawiens erkunden wir Belgrad. Die Spuren der Bombardierung durch die NATO im Jahr 1999 prägen bis heute das Stadtbild. Es war der erste Einsatz der NATO ohne UN-Mandat und der erste Kampfeinsatz deutscher Truppen seit 1945. 

Wir stoßen auf das Gebäude des damaligen Generalstabs, das bewusst in dem zerstörten Zustand nach seiner Bombardierung belassen worden ist. An seiner Fassade ist ein gigantisches Banner mit Werbung für die serbische Armee aufgehängt. An der Kreuzung davor befindet sich ein weiteres Banner, auf dem (frei übersetzt) steht: „Serbien ohne Kosovo ist wie ein Mensch ohne Herz.“ 

Bei den Luftangriffen – die als Reaktion der Verbrechen der serbischen Armee im Kosovo und in Albanien stattfanden – wurden militärische Ziele getroffen; es kamen aber auch ungefähr 500 Zivilisten ums Leben. Weit mehr wurden verletzt und/oder traumatisiert. Bis heute wird der Einsatz kontrovers diskutiert. Die Bilder vom Angriff sind Teil des kollektiven Gedächtnisses – jedoch wurde vieles noch nicht aufgearbeitet. Ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena muss sich auch dieser Periode der europäischen Geschichte widmen – die bis heute nicht nur die politischen Beziehungen zu den Partnern in Südosteuropa, sondern auch die Biografien der Menschen hier und in ganz Europa bestimmt. In Jena möchten wir uns der Thematik annehmen, auch wenn sie schwierig ist und vor allem in den betroffenen Ländern des Balkans bis heute tiefe Wunden verursacht – was an unserer nächsten Station in Srebrenica noch deutlicher wird. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

16. Etappe: Museum Jugoslawiens, Serbien

In Belgrad besuchen wir das Museum der Geschichte Jugoslawiens, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, der selbst eine bewegte Geschichte hinter sich hat. 

Ursprünglich war auf dem Gelände die Residenz von Tito. Heute beherbergt das 1975 als Wintergarten errichtete Blumenhaus seinen Leichnam in Form eines Mausoleums, das von zwei kleinen – sehr modernen – Ausstellungen flankiert wird. Das bereits 1962 errichtete Museum für die Geschenke Titos zeigt heute Wechselausstellungen, aktuell wird jedoch die Fassade renoviert. Die Geschenke, die der jugoslawische Partisanenführer und spätere Präsident aus dem In- und Ausland erhalten hat, werden – zusammen mit den Exponaten aus dem ehemaligen Museum der Revolution – im alten Depot ausgestellt. Viele Exponate wirken mittlerweile skurril. Unter anderem befindet sich hier eine Flagge Jugoslawiens, welche die Astronauten von Apollo 11 mit auf den Mond nahmen und die Tito während einer Reise in die USA von Richard Nixon überreicht bekam. Ebenfalls im Alten Museum ausgestellt sind Exponate aus dem ehemaligen Museum der Revolution – zusammen mit zeitgenössischen Installationen von Künstler:innen. 

Nach dem Tod Titos zog Slobodan Milošević in die Residenz. 1999 zerstörte die NATO das Gebäude, um den serbischen Nationalisten gezielt zu treffen. Milošević entkam und zog anschließend in ein Nachbarhaus um. 2001 wurde er dort verhaftet und nach Den Haag gebracht, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Heute trennt eine Mauer das Regierungsareal vom Museumskomplex. 

Während unseres Aufenthaltes ist das Museum geschlossen, aber wir können die Mitarbeiterin Mirjana Slavković treffen, die uns über das Gelände und durch die faszinierenden Ausstellungen führt.  Sie war im Rahmen des Exhibiting Contemporary History Programms des Europäischen Kollegs der Friedrich-Schiller-Universität bereits in Jena und kennt die Stadt gut. Wir erzählen von unserer Bewerbung für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation und unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa. Das Museum könnte – auch als Forschungs- und Bildungseinrichtung und seinen Kooperationen mit Künstler:innen der Gegenwart – ein möglicher Partner für das Zukunftszentrum in Jena sein. Mirjana Slavković jedenfalls wünscht uns viel Erfolg für unsere Bewerbung. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

15. Etappe: Demografischer Wandel, Bulgarien

Wir durchqueren den Norden Bulgariens von Ost nach West, auf den letzten 100 Kilometern mehr auf Schotter, als auf Asphalt. Überall – an den Häusern, Bushaltestellen, Laternenmasten oder Bäumen – sehen wir Zettel, mit den Bildern und Namen von Verstorbenen. Der Grund ist ein orthodoxer Brauch, mit dem der Tod eines Nahestehenden öffentlich angezeigt wird. Währenddessen sind die Straßen fast menschenleer. Die meisten Gebäude sind zerfallen; viele auch verlassen. Die Szenerie wirkt beinahe surreal. 

Vor allem der Nordwesten Bulgariens ist durch einen tiefgreifenden demografischen Wandel gekennzeichnet. Fast nirgendwo sonst auf der Welt schrumpft die Bevölkerung so schnell wie in dieser Region. Während hier 1989 noch knapp 9 Millionen Menschen gelebt haben, sind es heute weniger als 7 Millionen. Laut Schätzungen der UNO werden es 2050 nur noch knapp 5 Millionen sein, beinah die Hälfte. 

Der Nordwesten ist die ärmste Region im ärmsten Land der Europäischen Union. Die Menschen, vor allem die jüngeren Generationen, haben hier kaum Perspektiven für die Zukunft. Wer kann, zieht weg. Zurück bleiben vor allem die Alten. Deswegen ist die Mortalitätsrate hier vergleichbar mit jener in Kriegsgebieten. 

Diese Form des demografischen Wandels betrifft nicht allein Bulgarien. Seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Systemwechsel haben schätzungsweise 12 bis 15 Millionen Osteuropäer:innen ihre Heimat verlassen, der größte Teil in die Länder des Westens. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen gehen weg, so arbeitet nach Schätzungen jeder sechste in Bosnien-Herzegowina ausgebildete Arzt in Deutschland. 

Diese im weltweiten Vergleich kaum zu überbietende Veränderung hinterlässt tiefe Wunden in den Heimatländern der Weggezogenen, die ihren Einwohner:innen kaum noch Perspektiven bieten können. Langfristige Strategien zur Lösung dieser Entwicklung, die die Länder in Mittel- und Osteuropa massiv verändert, gibt es kaum. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

Weiterführende Informationen:

https://balkaninsight.com/2020/01/13/time-for-policy-change-on-western-balkans-emigration/

https://www.nzz.ch/international/bulgarien-entvoelkerung-ist-das-demografische-problem-osteuropas-ld.1529941

14. Etappe: Tombul-Moschee, Bulgarien

Die Kultur im im südöstlichen Europa ist stark durch den Islam geprägt. Bulgarien hat innerhalb der Europäischen Union mit 10 bis 13 Prozent den größten muslimischen Bevölkerungsanteil, obwohl hier kurz vor dem Zusammenbruch des Staatssozialismus rund 370.000 Muslime in Richtung Türkei vertrieben wurden.  

Wir besuchen die Tombul-Moschee in Schumen. Bis zur politischen Wende 1989/90 diente die größte Moschee Bulgariens und die zweitgrößte Moschee der Balkanhalbinsel als Museum. Heute wird hier wieder gebetet und in den angeschlossenen Schulen unterrichtet. In Schumen sind 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung Muslime. 

Wir werden in der Tombul-Moschee sehr herzlich begrüßt und dürfen den Gebetsraum und den Innenhof besichtigen. Die Anlage ist klein aber wunderschön. Leider können wir uns kaum mit Worten verständigen, sodass ein Gespräch unmöglich ist. Am Ende kaufen wir noch zwei Misbaha als Andenken, bevor wir unsere Tour durch den Norden Bulgariens fortsetzen. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

13. Etappe: National-Denkmal, Bulgarien

Unsere erste Station in Bulgarien ist das „Denkmal zur Gründung des bulgarischen Staates“ in Schumen, ein Betonklotz mit gigantischen Ausmaßen. Eröffnet wurde es 1981 aus Anlass des 1300. Jahrestages der Gründung Bulgariens. 

Das Denkmal auf einem Berg ist bereits auf unserer Anfahrt aus mehr als 20km Entfernung zu sehen. Allein der Löwe an der Spitze wiegt 1000 Tonnen. Für den Bau wurden 2300 Kubikmeter Erde ausgehoben und 2400 Tonnen Verstärkungsstäbe sowie 50.000 Kubikmeter Beton verarbeitet. Das in die Wände eingelassene Mosaik ist das größte Freiluft-Triptychon Europas. 

Der Stolz auf die eigene Nation und deren Geschichte bestimmt auch die heutige Politik in Bulgarien massiv. Der Systemwechsel in Bulgarien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus geschah vergleichsweise ruhig. 1988 leitete das Land einen Reformkurs ein. Mitte November 1989 gab es erste Massenproteste, aus denen eine demokratische Oppositionsbewegung resultierte. Nach freien Wahlen entstand 1990 die Republik Bulgarien.  

Einen Sonderweg beschritt das Land 2001, als der aus dem Exil heimgekehrte ehemalige Zar Simeon II. von Sachsen Coburg und Gotha mit der „Nationalen Bewegung“ die Wahlen zum Ministerpräsidenten gewann. Er ist bis heute der einzige in Europa abgesetzte Monarch, der auf demokratischen Weg die politische Macht zurückerlangen konnte. 2004 trat Bulgarien der NATO und 2007 der Europäischen Union bei, ist aber bis heute kein Mitglied des Schengen-Raums.  

Text: Tobias Schwessinger/Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

12. Etappe: Vama Veche, Rumänien

Kurz vor der bulgarischen Grenze halten wir in Vama Veche. Der kleine Ort an der Schwarzmeerküste war lange Zeit eine Enklave für Künstler und Aussteiger. In den letzten Jahren hat er sich massiv verändert.

Bereits im Kommunismus und unter dem Regime von Ceaușescu suchten Andersdenke in dem Grenzort zu Bulgarien Schutz vor der Securitate, dem rumänischen Geheimdienst. Seinen Ruf als Enklave behielt Vama Veche auch nach dem Sturz des Regimes 1989/90. Vor allem Aussteiger kamen hierher und verliehen dem alternativen Badeort seine besondere Atmosphäre. Bis zuletzt wehrten sich die Menschen erfolgreich gegen den Massentourismus. So hat eine Bürgerinitiative die Errichtung großer Hotelanlagen verhindert. Vor drei Jahren etwa unterstützten zahlreiche Rocker den Protest und blockierten mit ihren Maschinen die einzige Durchgangsstraße zur Grenze nach Bulgarien.

Heute scheint Vama Veche dennoch verloren. Der Ansturm der Touristen reißt nicht mehr ab und die damit verbundene Transformation macht offensichtlich keinen Halt. Angezogen vom Charme der Region und den Mythen über das alternative Flair, lassen sich die Massen auf privaten Strandabschnitten nun ihre Getränke an den Liegestuhl bringen. Aus Lautsprechern dröhnt laute Technomusik, während Promoter Lifestyle-Produkte verteilen. Alles wirkt wie ein kommerzielles Festival am Strand.

Die Befürchtung, dass dieser Ort – der sich bereits jetzt massiv verändert hat – in wenigen Jahren kaum noch wiederzuerkennen sein wird, teilt auch ein junges Paar, das wir beim Mittag treffen. Beide wohnen in Deutschland. Er war in seiner Jugend mit seiner Familie aus Moldau oft hier und erzählt von der besonderen Atmosphäre, die in den letzten Jahren immer mehr verloren geht. Die Menschen, die diesen Kulturraum eigentlich geprägt haben, werden zunehmend an dessen Ränder gedrängt. Die letzte Bastion bildet das Restaurant auf einem kleinen Hügel im Norden, wo es den frischen Fisch direkt vom Ofen am Strand gibt und eine als Pirat verkleidete Puppe im Ausguck mit einem Gewehr symbolisch auf den Massentourismus zielt.

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

11. Etappe: Donaudelta, Rumänien

Von Deutschland aus fließt die Donau einmal quer durch Mittel- und Osteuropa und mündet im Drei-Ländereck Rumänien-Ukraine-Moldau ins Schwarze Meer. Das Gebiet ist das zweitgrößte Delta Europas mit einem einzigartigen Netzwerk aus über 30 Ökosystemen. Hier kann man das größte Schilfgebiet der Welt und zahlreiche Vogelarten entdecken – darunter den Rosa-Pelikan. Der schwerste flugfähige Vogel ist nirgendwo sonst in Europa heimisch.

Ein Naturparadies, das sich bereits kurz vor seiner Zerstörung befand – und auch heute noch akut bedroht ist. So wurden ab den 1960er Jahren im kommunistischen Rumänien weite Teile des Deltas trockengelegt. Unter anderem weil Elena Ceaușescu, die Frau des ehemaligen Diktators, hier Reis anbauen wollte – was aber nicht funktionierte. Die künstlich veränderte Landschaft und mit ihr die Tiere und Pflanzen starben dennoch.

Erst der Sturz des Regimes in Rumänien und der Zerfall des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa retteten das Naturparadies vor der weitgehenden Zerstörung. Heute ist das Donaudelta das größte grenzüberschreitende Schutzgebiet in Europa, an dem Rumänien, Bulgarien, die Republik Moldau und die Ukraine beteiligt sind. In der ehemaligen Ferienvilla von Nicolae Ceaușescus arbeiten heute Wissenschaftler:innen aus ganz Europa, die hier zur Erhaltung des Naturparadieses forschen.

Die Arbeitslosenquote liegt in der Region zwischen 30 und 40 Prozent. Verbunden mit dem Problem der Wilderei, die das ökologische Gleichgewicht akut gefährdet – wie der Elektrofischerei und den illegalen Export von Wildpferden –, wird die Notwendigkeit eines sozial-ökologischen Wandels deutlich. Nur wenn soziale Missstände behoben werden, kann auch das ökologische Gleichgewicht sichergestellt werden.

Eine weitere Bedrohung für das Delta stellt der Tourismus dar. Immer mehr Anbieter fahren mit Speedbooten über die empfindlichen Wasserwege und bringen Menschen auch zu kleinen Siedlungen, in denen immer neue Pensionen und Bars gebaut werden. In einer davon – Milan 23, einem Dorf mit rund 200 Einwohnern der russischen Minderheit – reden wir mit Ionel. In den 1980er Jahren war er Kapitän auf einem großen Handelsschiff mit mehr als 100 Mann Besatzung. Nach dem Zerfall des Systems wurde er arbeitslos. Ende der 1990er gründete Ionel sein eigenes Familienunternehmen, mit dem er Touristen ins Delta bringt und ihnen Flora wie Fauna näher bringt. Das Geschäft läuft gut. Heute ist er ein erfolgreicher Unternehmer und Gewinner der Transformation. Dem Ökosystem im Donaudelta hingegen wird der wachsende Erfolg seiner Branche immer mehr Schaden zufügen.

Text & Fotos: Christian Faludi

10. Etappe: Kloster Saon, Rumänien

Von Comrat führt unser Weg weiter durch das ehemalige Bessarabien in Richtung Süden bis zum Grenzübergang bei Galați, wo wir mit der Fähre über die Donau setzen. Unweit des Ortes mündet der Strom nach seinem Lauf durch weite Teile Ost-/Mitteleuropas in einem gigantischen Delta ins Schwarze Meer. Das ist unser nächstes Ziel. 

Auf dem Weg dorthin machen wir einen Stopp am Kloster Saon, um herauszufinden, ob es noch möglich ist, sich bei den Nonnen zum Mittagessen einzuladen. An der Kirche treffe ich Schwester Julia, die erklärt, dass es so etwas früher einmal gab. Wenn ich aber möchte, kann ich gern am nächsten Tag wiederkommen. Pünktlich um 12 Uhr treffen wir uns wieder am Tor, und Julia nimmt mich mit in die Küche, wo mir die dort arbeitenden Nonnen und der Priester vorgestellt werden. Vor dem Essen habe ich die Gelegenheit, im Garten mit Schwester Justina zu sprechen. Hier entwickelt sich ein Gespräch „über Gott und die Welt“, das auch sehr persönlich wird. Justina erzählt von ihrer persönlichen Transformation – ihrer „neuen Geburt“ –, bei der sie exakt vor 23 Jahren und einem Tag im Alter von nur 17 Jahren ins Kloster gegangen ist, ihren Anfängen wie auch Schwierigkeiten im Leben als Nonne und ihren Weg zum „inneren Frieden“. Daneben berichtet sie auch viel über die Geschichte und die jüngere Transformation des Ortes, der bei ihrer Ankunft 1999 noch nahezu eine Ruine ohne Strom war. Wasser musste sie damals aus dem Fluss holen. Die Menschen aus den umliegenden Orten kamen seinerzeit noch mit Pferden auf unbefestigten Wegen zum Besuch beim Priester. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten haben die Nonnen hieraus ein strahlendes Idyll mit zwei wunderschönen Kirchen, Landwirtschaft wie Weinanbau und Tierzucht geschaffen. Die Versorgung funktioniert fast autonom. Für den restlichen Bedarf verkaufen sie selbst gemachten Honig, Wein oder christlichen Schmuck an Besucher, die nun über eine asphaltierte Straße hierhin kommen. Der Erlös reicht, und er gibt sogar die Möglichkeit, mehr zu tun. So nahmen die Nonnen vor drei Monaten Geflüchtete aus der Ukraine bei sich auf. Auf die Frage, was sich Justina für die Zukunft wünscht, erklärt sie, dass sie darüber nicht nachdenkt. Und weiter: Die Gemeinschaft im Kloster lebt im Hier und Jetzt. Die Zukunft liegt in „Gottes Hand“, und das Vertrauen in ihn gibt Justina den inneren Frieden, der es möglich macht, mit allen anderen Menschen in Harmonie zu leben. Als Botschaft solle ich mitnehmen, dass jeder diesen Frieden finden kann – nicht nur im Kloster.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen verabschieden mich die Nonnen herzlich und ich fahre dankbar für die schöne Erfahrung in dieser abgeschiedenen Welt und die tiefen Einblicke in das Leben dort nach Tulcea, wo schon das Boot für die Fahrt ins Delta wartet.

Text & Foto: Christian Faludi

9. Etappe: Comrat, Gagausien (Republik Moldau)

Heute geht es weiter Richtung Comrat, die Hauptstadt der autonomen Republik Gagausien. Die letzten 40 Kilometer fahren wir über die „Strada Lenin“Einige Abschnitte sind voller Schlaglöcher, andere sind völlig neu. Finanziert wird die Instandsetzung der Straße, die quer durch die ehemalige Sowjetrepublik führt, durch Fördergelder der Europäischen Union – wie uns immer wieder Schilder verraten.

Im Gegensatz zu Transnistrien wird die autonome Region Gagausien von der Republik Moldau anerkannt. Hier leben vorwiegend die ethnische Minderheit der Gagausen, aber auch Russen, Moldauer, Bulgaren und Ukrainer. Neben Rumänisch wird hier vor allem die Turksprache Gagausisch gesprochen, ein dem Türkischen verwandter Dialekt. Umgangs- und Amtssprache ist aber auch Russisch.

Die Abspaltung Moldaus von der Sowjetunion und die Annäherung an Rumänien löste in Gagausien eine pro-russische Gegenbewegung aus. Nachdem die Republik Moldau 1994 den Autonomiestatus der Region anerkannt hatte, ist mit Ausbruch des Ukraine-Konflikts 2014 und die Annäherung der Republik Moldau an Rumänien, der Konflikt neu entfacht. Bei einem (nichtoffziellem) Referendum am 2. Februar 2014 stimmten 98,4% der Menschen in Gagausien für engere Beziehungen mit Russland und 97,2% gegen eine Annäherung an die EU. Neben Russland unterhält die Türkei enge Beziehungen mit der Region, was den Konflikt nicht deeskaliert.

Wie präsent die sowjetische Vergangenheit und die Nähe zu Russland hier ist, erfahren wir bei einem Besuch im Regionalmuseum. Neben Abbildungen und Objekten zur Geschichte der Region und dem Alltag der Menschen, entdecken wir vor allem Relikte aus der Sowjetzeit, Miniaturpanzer, Fotos von hochrangigem Besuch aus Russland (unter anderem Putin), Orden und vieles mehr. Vor der Verwaltungsbehörde Gagausiens steht eine nach wie vor gepflegte Lenin-Statue, an einer Straßenlaterne hängt ein verrosteter Sowjetstern. Bevor wir weiterfahren Richtung Donaudelta kaufen wir bei einer alten Dame auf Russisch Piroschki und am Straßenrand einen Becher Kvas.

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

8. Etappe: Chişinău, Republik Moldau

Die Republik Moldau – ein Land zwischen sowjetischer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft in der Europäischen Union, das mit dem Transnistrien-Konflikt international politische Aufmerksamkeit erlangte und dem im Ukraine-Konflikt eine besondere Bedeutung zukommt.

Mit der Einreise in die Republik Moldau verlassen wir erneut die Europäische Union. Als die Ukraine in Folge des russischen Angriffskriegs die Mitgliedschaft in der EU beantragt hat, folgte kurz danach auch die Republik Moldau. Seit dem 23. Juni 2022 hat das Land offiziell den Kandidatenstatus verliehen bekommen. Aktuell leben in dem ärmsten Land Europas 2,6 Millionen Moldauer, wobei über eine halbe Million Ukrainer:innen auf der Flucht vor dem Krieg in den letzten Monaten die Grenze nach Moldau überschritten haben. Viele sind hiergeblieben. 

Die Region in Osteuropa hat eine bewegte Geschichte hinter sich, bei der sie immer wieder zum Spielball der Interessen verschiedener Großmächte wurde. Von 1940 bis 1991 gehörte sie zur Sowjetunion, 1991 erklärte Moldau offiziell seine Unabhängigkeit. Die Angst, dass Russland Anspruch auf die Region erhebt, wurde mit dem Überfall auf die Ukraine präsenter denn je. Die im Land schwelenden Konflikte zwischen pro-russischen und pro-europäischen Kräften wurden dabei neu entfacht.

Wir reisen übers Land durch kleine Dörfer und durch die Hitze stark in Mitleidenschaft gezogene Agrarwüsten von Iaşi in Richtung Chişinău. Die schier endlosen Sonnenblumenfelder sind verdorrt. Die Dörfer scheinen – abgesehen von den Melonen-Händlern am Straßenrand – fast menschenleer. Ganz anders ist es in Chişinău, wo mit fast 700.000 Einwohnern das Leben pulsiert. Die Stadt selbst wirkt aber immer wieder ein wenig wie aus der Zeit gefallen – was vor allem an den omnipräsenten Wohnblöcken liegt.

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi

Fotos: Christian Faludi

7. Etappe: Denkmal Chișinău, Republik Moldau

Wie präsent die sowjetische Vergangenheit in der Republik Moldau auch heute noch ist, beweist das „Complexul Memorial Eternitate“ in Chișinău, eine von der Sowjetunion 1975 errichtete monumentale Denkmalanlage. Sie ist den sowjetischen Soldaten gewidmet, die im zweiten Weltkrieg gegen die deutsch-rumänischen Truppen gekämpft haben.

Auf mich wirkt das Denkmal irgendwie wie ein gigantischer Fremdkörper in der Stadt. Im umliegenden Park spielen Kinder Fußball und gehen Familien spazieren. Zwischen den Säulen des Denkmals, die fünf Gewehre symbolisieren, brennt ein Ewiges Feuer, oben ist ein großer Sowjetstern zu sehen. Auf den Stelen sind militärische Szenen von 1941 bis zur Befreiung vom Faschismus 1945 zu sehen.

Ebenfalls auf dem Gelände entdecken wir ein Denkmal zur Erinnerung an den Transnistrien-Krieg, in dessen Folge sich 1992 die Separatistenregion mit Unterstützung von russischen Truppen von der Republik Moldau abspaltete. Noch heute sind dort, zwischen der Republik Moldau und der Ukraine, rund 1500 russische Soldaten stationiert. Mehr als die Hälfte der Menschen in Transnistrien identifizieren sich als Russen, die anderen als Rumänen und Ukrainer. Die Angst, dass sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auf die Republik Moldau ausweitet, ist hier sehr präsent.

Wir verlassen Chișinău wieder und reisen weiter Richtung Gagausien, eine autonome Region im Süden der Republik Moldau.

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

6. Etappe: Czernowitz, Ukraine

Wir sind in Czernowitz angekommen – ein sicherer Hafen in der Ukraine, in dem aktuell vermutlich um die 100.000 Binnenflüchtlinge gestrandet sind. Die genaue Zahl kennt niemand. Hier treffen wir an der Universität Oxana Matiychuk.

Oxana ist die Leiterin der Ukrainisch-Deutschen Kulturgesellschaft Czernowitz, das zum Zentrum Gedankendach an der Jurij-Fedkowytsch-Universität gehört. Als Mitarbeiterin ist sie im Internationalen Büro für den Austausch mit deutschsprachigen Hochschulen zuständig. Zu Jena hat sie dabei sehr enge Verbindungen, zuletzt über ein gemeinsames europäisches Theater-Projekt, an dem auch die Freie Bühne Jena beteiligt war. Später erzählt sie uns, dass sie gemeinsam in Czernowitz an einem Theaterstück zum Ersten Weltkrieg gearbeitet haben, das auch auf dem Friedensberg in Jena aufgeführt wurde. Viele Menschen aus Deutschland und ganz Europa haben sie in Czernowitz besucht und mit ihr zusammengearbeitet. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kommt fast niemand mehr.

Wir warten auf Oxana vor den Toren der Universität an denen ein großes Transparent angebracht ist. Als wir sie fragen, was dies bedeutet, sagt sie: „Bunker“. Die Universität besitzt zwei große Luftschutzkeller, in denen die Menschen bei Alarm Schutz suchen können. Bevor wir in ihr Büro gehen, führt sie uns durch die Kellerräume. Lachend zeigt sie auf eine große Zimmerpflanze und mehrere Teppiche. Der Hausmeister versucht, die Bunker etwas wohnlicher zu gestalten. Oxana erklärt, wenn der Alarm während unseres Gesprächs ertönt, sollen wir direkt hier runter gehen. Sie würde dann nachkommen, müsse sich jedoch erst darum kümmern, dass alle anderen ebenfalls den Weg in den Schutzraum finden. Aktuell wären viele Abiturienten in der Universität, die sich für das nächste Semester einschreiben.

Zurück in ihrem Büro erzählen wir kurz von unserer Reise und fragen dann Oxana und Oleg, einen ihrer Mitarbeiter – er hat in Weimar studiert und kennt Jena gut – nach ihrer aktuellen Situation. Wie angesichts des Krieges das Leben an der Universität und ihr Alltag aussieht. Während wir ihnen zuhören, passiert es dann doch: Mitten im Satz ertönt der Alarm. Oxana geht sofort ans Telefon und benachrichtigt alle in der Universität. Wir gehen in den Bunker.

Nach einigen Minuten kommt auch Oxana und wir führen unser Gespräch weiter. Zwischen uns die Zimmerpflanze, die der Hausmeister aufgestellt hat. Im Raum nebenan vertreiben sich Studenten beim Tischtennis die Zeit. Oxana erzählt von der Solidarität der Menschen in der Ukraine, die sich gegenseitig und vor allem die Soldat:innen an der Front – die hier meist „bei Null“ genannt wird – mit allem unterstützen, was in ihrer Macht steht. Später zeigt sie uns Pakete mit „Notkompressen“ und Wasserfiltern im Büro ihres Kollegen. „Abschiedsgeschenke“ für Kolleg:innen und Freund:innen, die eingezogen werden.

Über das Zukunftszentrum sprechen wir nur noch am Rande. Dennoch betont Oxana, wie wichtig gerade jetzt der gegenseitige Austausch ist. Wir verabreden, das Band für eine engere Kooperation zwischen den Institutionen in Czernowitz und Jena wieder enger zu knüpfen. An der Gestaltung eines Zukunftszentrums, wünscht sie sich, teilhaben zu können. Um die Menschen näher zusammenzubringen, sagt sie. Miteinander zu reden, dem anderen zuzuhören, wäre heute wichtiger denn je. Für die Zukunft wünscht Sie sich, dass die Ukraine in ihren alten Grenzen von den russischen Invasoren befreit wird und sie wieder in ihrer Heimat leben kann, ohne sich um das Leben der Menschen zu fürchten, die ihr nahestehen – und ihr eigenes.

Das ausführliche Gespräch mit Oxana Matiychuk wird später Teil unserer Reisedokumentation sein.

Text: Christian Faludi & Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

5. Etappe: Grenze, Ukraine

Heute sind wir in den ukrainischen Teil der Bukowina nach Czernowitz gereist – in ein Land, das sich seit 2014 im Krieg befindet und im Februar dieses Jahres von russischen Truppen überfallen worden ist und denen es sich nach wie vor entschlossen entgegenstellt. Die Landschaft der Bukowina mag hier dieselbe sein, wie in Rumänien, der Alltag der Menschen könnte anders nicht sein.

An der Grenze von Rumänien in die Ukraine sind wir wahrscheinlich die einzigen Nicht-Ukrainer. Während wir auf die Kontrolle durch die Grenzbeamten warten, werden wir von Katja angesprochen. Sichtlich verwundert fragt sie, was wir vorhaben. Sie selbst ist im März vor den russischen Truppen aus ihrem Heimatdorf nahe Kiew nach London zu ihrer Tochter geflohen. Jetzt kehrt sie zum ersten Mal in Ihre Heimat zurück – zu ihrem Mann und ihrer Mutter, die dortbleiben mussten. Für die Zukunft wünscht sie sich nur eines: wieder zusammen mit ihrer Familie sein zu können, ohne Angst um ihr Leben zu haben. Vielleicht – so hofft Katja – ist alles in einem Jahr wieder „normal“.

Wir haben uns entschlossen, hierher zu reisen, weil ein Gespräch über die Geschichte und Zukunft in Mittel- und Osteuropa ohne die Ukraine zurzeit nicht richtig wäre. Nach dem Grenzübertritt fahren wir auf dem Weg nach Czernowitz viele Kilometer an wartenden LKWs vorbei, welche das Land mit den aktuell so dringend benötigten Waren versorgen. In Czernowitz sind wir mit Oxana Matiychuk verabredet. Von dem Treffen mit ihr wird der nächste Post berichten.

Text: Christian Faludi & Tobias Schwessinger

Foto: Christian Faludi

4. Etappe: Bukowina, Rumänien

Auf dem Weg in die Ukraine führt unser Weg nach Suceava durch die Bukowina, eine Landschaft, in der lange Zeit eine Vielzahl von Ethnien lebten, auch Deutsche und Juden. Viele Jahrhunderte war die Region durch eine Vielfalt geprägt, die den Konflikten und Kriegen im 20. Jahrhundert beinahe vollständig zum Opfer fiel. Heute kreuzen wir auf unserem Weg durch die Karpaten lediglich kleinere Rom:nja-Siedlungen, treffen Händler mit Honig neben ihren Bienstöcken, Beeren oder Waldpilzen. 

In den Städten und Dörfern feiern die Menschen derweil bereits am zweiten Tag Mariä Himmelfahrt in hellen Trachten und prozessieren mit Ikonen durch die Straßen. Dabei stoßen wir an gleich mehreren Stationen auf bunte Volksfeste. Neben regionalen Spezialitäten erhalten wir auch Gelegenheit, traditionellen Tänzen beizuwohnen. Auf feierlich geschmückten Kutschen und Pferden fahren die Menschen durch die Dörfer. 

Unter diesen Eindrücken wird in uns die Frage laut, inwiefern gerade in Zeiten, die von unzähligen Umbrüchen geprägt sind, Traditionen eine Stütze sind, die das Gefühl von Sicherheit und Heimat geben. Sind es nicht auch solche Rituale und Bräuche, die in dem Leben der Menschen, das politisch, sozial und wirtschaftlich – auch mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse – von umgreifenden Transformationen bestimmt ist, Schutz und Geborgenheit bieten? 

Wir waren jedenfalls dankbar, an den Festen teilnehmen zu können. Die vielen Menschen und ihre fröhliche und lebensbejahende Art und Weise zu feiern, beeindruckte uns sehr. 

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

3. Etappe: Der „Fröhliche Friedhof“ von Săpânța, Rumänien

Es ist ein Thema, das uns seit Beginn der Reise begleitet: Die Transformation des Reiseplans. Umwege sind während unseres Roadtrips mehr die Regel als die Ausnahme. Das Spannende und Schöne daran sind die Überraschungen. Auf unserer Route zum Memorial Sighet versperrt uns eine rumänische Hochzeitsgesellschaft den Weg, die durch ihr Dorf in den Karpaten mit Musik und Gesellschaft zieht. Andernorts kommt eine lange Prozession anlässlich Mariä Himmelfahrt – ein zentraler Feiertag in Rumänien – mit einer Ikone aus einer Kirche. 

An wieder anderer Stelle stoßen wir ungeplant auf ein großes Fest und werden von dem Gesang aus einer farbenprächtigen Kirche angelockt und einen auf den ersten Blick seltsam anmutenden Friedhof. Der Cimitirul Vesel, der ›Fröhliche Friedhof‹ von Săpânța, ist ein einzigartiger Ort. Auf jedem der kunstvoll gestalteten Kreuze findet sich ein ironischer Nachruf auf den Verstorbenen. Die Tradition geht auf den Künstler Stan Ioan Pătraș zurück, auf dessen eigenem Grabstein steht: »Seit dem 14. Lebensjahr musste ich Geld verdienen. Aus 62 Ländern haben sie mich bis gestern besucht, aber wer jetzt noch kommt, der wird mich nicht finden.«

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi

2. Etappe: Memorial Sighetu, Rumänien

In ganz Europa forderte der Sozialismus seine Opfer – allein in Rumänien wurden von 1947 bis zum Sturz des Diktators Nicolae Ceaușescu hunderttausende Menschen im Namen des Kommunismus inhaftiert, gefoltert und getötet. 

Besonders deutlich wird das heute noch in der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus in Sighetu in Rumänien. Hier wurden wir von Norbert Kondrát und Andrea Dobes empfangen, die uns durch das ehemalige Gefängnis führten, in dem bis in die 1960er Jahre politische Eliten inhaftiert wurden. Norbert und Andrea gaben uns dabei einen spannenden Einblick in ihre Arbeit und die Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit. 

Im Anschluss an die Führung durch das Areal blieb noch etwas Zeit für Gespräche. In Bezug auf ein mögliches Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena wurde dabei die Hoffnung laut, eine partnerschaftliche Kooperation einzugehen – nicht zuletzt auch, weil über die Universität Jena bereits seit Jahrzehnten enge Kontakte bestehen.  

Wir bedanken uns für den herzlichen Empfang, die interessante Führung und die Unterstützung für unsere Bewerbung.

Text: Tobias Schwessinger

Fotos: Christian Faludi 

1. Etappe: Košice, Slowakei

Es ist ein Beispiel für einen Transformationsprozess, der in der Sackgasse steckt – und es ist eine der ersten Stationen unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa: Der Stadtteil Luník IX in Košice, Slowakei. 

Ursprünglich in den 1970er Jahren als Arbeitersiedlung für Polizisten und Soldaten gebaut, leben hier heute fast ausschließlich Rom:nja bei einer Arbeitslosenquote von über 90%. Nach dem Zerfall des Staatssozialismus brachen in Košice – wie in vielen anderen Orten in Mittel- und Osteuropa – auch die Industrie und das Versprechen auf einen Arbeitsplatz weg. Diejenigen, die es sich leisten konnten, zogen aus Luník IX weg, während von Armut betroffene und strukturell ausgegrenzte Menschen, vor allem Rom:nja, in den folgenden Jahren nach Luník IX zwangsweise umgesiedelt wurden. Die ursprünglich für Luník IX geplante Transformation zu einem integrativen Stadtteil scheiterte. 

Die Eindrücke aus Lunik IX werden uns noch lange beschäftigen. Aus Respekt erschien es uns aber unangemessen, Fotos aus nächster Nähe aufzunehmen. Daher haben wir uns für eine Aufnahme entschieden, die den gesamten Stadtteil aus der Luft zeigt. Gerne möchten wir aber auf einen Kurzfilm von Artur Čonka verweisen, der selbst einige Jahre in Luník IX aufgewachsen war und somit ein Bild von innen vermitteln kann: https://www.romarchive.eu/de/collection/lunik-ix/ 

Wir melden uns morgen wieder!

Text: Tobias Schwessinger

Foto: Christian Faludi