26. Etappe: Jena, Deutschland

Wir sind zurück in Jena. Unsere Reise durch Mittel- und Osteuropa ist zu Ende. Unsere Erfahrungen und Erlebnisse in einem Satz zusammenzufassen, ist unmöglich. Zu unterschiedlich und vielfältig waren die Orte und Menschen, die wir besucht haben. Eine Vielfalt, die nicht nur die Transformation in Europa in den letzten Jahrzehnten bestimmt, sondern auch die Arbeit eines Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation auszeichnen würde. 

Wir haben Orte besucht, an denen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus besonders deutlich werden und haben mit den unterschiedlichsten Menschen über ihre persönlichen Transformationserfahrungen gesprochen. Unser Ziel war es, mit „Kamera, Aufnahmegerät und einem Rucksack voller Fragen” in 10 Tagen Orte und Menschen in 10 Ländern zu besuchen. Am Ende haben wir in 14 Tagen 14 Länder bereist: Polen, Slowakei, Rumänien, Ukraine, Republik Moldau, inklusive der autonomen Republik Gagausien, Bulgarien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, inklusive der autonomen Republik Srpska und der Föderation Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Österreich, Ungarn, Tschechien, Deutschland. 

Vielfalt 

Insgesamt sind wir knapp 6.000 Kilometer gefahren, haben 20 Grenzen überquert, 26 Texte mit 72 Fotos veröffentlicht und unzählige spannende Gespräche geführt. Selbstredend war es uns in so kurzer Zeit nicht möglich, alle Länder in Mittel- und Osteuropa zu besuchen und auch unsere Berichte über die erreichten Orte und Menschen sind lediglich Ausschnitte, die einen Einblick in die Vielfalt der Menschen und ihre Geschichten geben – und in die möglichen Themenfelder in einem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena. 

Perspektive

Die Zukunft muss – auch angesichts der aktuellen Entwicklungen – aus einer europäischen Perspektive verstanden und gestaltet werden. Der Deutschen Einheit wie der europäischen Vereinigung können wir nur unter Berücksichtigung ihrer Vielfalt und Heterogenität gerecht werden. Immer wieder sind nicht die Unterschiede die Ursache des Problems, sondern das mangelnde gegenseitige Verständnis. 

Zum Ende unserer Reise beginnt etwas Neues: Noch heute wird unsere Kampagne für die Bewerbung der Stadt Jena und der Friedrich-Schiller-Universität für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation gestartet. Eine Kampagne, die erst durch Ihre und Eure Beteiligung mit Leben gefüllt werden wird. 

Text: Tobias Schwessinger 

Foto: Christian Faludi

25. Etappe: Deutsche Botschaft Prag, Tschechien

1989 bekam der Eiserne Vorhang immer mehr Löcher, und die Menschen wurden immer wagemutiger. Die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Prag, Warschau, Budapest oder auch Ost-Berlin wurden in den 80er Jahren zu einem Ort für viele Flüchtende. Hier hofften die Menschen – immer wieder erfolgreich – auf die Möglichkeit der Ausreise in die BRD. Im August 1989 strömten etliche Menschen auf das Gelände der Botschaft in Prag, die schnell an ihre Kapazitätsgrenzen gelangte. In der Spitze campierten hier im Herbst rund 4.000 Männer, Frauen und Kinder auf der Wiese vor dem Gebäude unter teils katastrophalen Bedingungen. In den Straßen um die Botschaft parkten unzählige verlassene Fahrzeuge mit ostdeutschen Kennzeichen. 

Die erfolgreichen Verhandlungen über die Ausreise der Flüchtenden führte Hans-Dietrich Genscher – der erst kurz zuvor genesen aus dem Krankenhaus entlassen worden war – mit Eduard Schewardnadse, Oskar Fischer und Jaromír Johanes am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Am 30. September landete er in Prag, verwehrte den Journalisten jede Auskunft und sprach die berühmten, im Jubel der Menschen untergehenden Worte, vom Balkon aus direkt zu den Geflüchteten.  

Während die Menschen in abgeriegelten Zügen und unter dem Schutz westdeutscher Diplomaten über Dresden und Karl-Marx-Stadt nach Hof ausreisen durften, flohen erneut Tausende DDR-Bürger:innen auf das Gelände der Botschaft. Auch sie konnten ausreisen. Am 3. November um 21 Uhr öffnete Tschechien seine Grenzen vollständig. Der Eiserne Vorhang öffnete sich. 

Die Bilder vor der Ausreise sind noch heute aktuell

Wir werden in der Deutschen Botschaft in Prag von Martin Sielmann, dem Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, empfangen. Er führt uns durch das Gelände und erzählt, was hier im Sommer 1989 geschehen ist. Er selbst war bereits damals beim Auswärtigen Amt beschäftigt – zu der Zeit in Bonn – und hat den Zusammenbruch des Staatssozialismus als Diplomat miterlebt.  

Uns erinnern die Bilder der campierenden Geflüchteten im Park der Botschaft an unsere vorherigen Stationen, etwa in Sopron, aber auch am Grenzzaun an der slowenischen Grenze und auch an aktuelle Bilder aus Flüchtlingscamps. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt flüchten vor Armut, Unterdrückung und Verfolgung. In einem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena könnte sich über Flucht und Migration – damals wie heute – ausgetauscht und gemeinsame Erfahrungen geteilt werden. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

24. Etappe: Prager Frühling und Samtene Revolution, Tschechien

Demokratische Proteste und ihre Geschichte werden zweifellos ein wesentlicher Bestandteil des Zukunftszentrums in Jena sein. Auch auf unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa werden wir immer wieder mit diesem Thema konfrontiert. Dabei verdichten sich die Geschichten in Prags Mitte wie an kaum einer anderen Stelle. 

Der Wenzelsplatz ist historisch wie aktuell ein Ort des demokratischen Protestes. Ereignisgeschichtlich herausragend für die Bürger in der DDR war der Prager Frühling 1968 ein Erlebnis, das zunächst zahllose Hoffnungen auf eine Liberalisierung der staatlichen Systeme im Warschauer Pakt laut werden ließ, und nach der blutigen Niederschlagung in allgemeine Lethargie verfallen ließ. 

Heute sind die Spuren am Ort des Geschehens vor allem mit dem Namen Jan Palach verbunden. Der tschechische Student wählte rund fünf Monate nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Rücknahme der Reformen, eine extreme Form des Protestes, als er sich am Morgen des 19. Januar 1969 an den Stufen des Nationalmuseums mit Benzin übergoss, anzündete und auf den Wenzelsplatz rannte. Nur wenige Stunden später versammelten sich spontan rund 200.000 Menschen zu einer Demonstration. Palach wurde zu einer Märtyrerfigur des Widerstandes. 

Demokratische Proteste als wichtiger Bestandteil

Zwanzig Jahre nach den Ereignissen wurde der Wenzelsplatz erneut zum Zentrum des Protestes während der Samtenen Revolution. Am Höhepunkt der Demonstrationen kamen hier Ende November 1989 rund 800.000 Menschen zusammen und forderten den Rücktritt des Politbüros.  

Der Besuch des Ortes vermittelt uns einen Eindruck vom Geschehen, und er erinnert uns an die zahlreichen Stätten historischer Proteste in Ostdeutschland, wie auch darüber hinaus, die im Jenaer Zukunftszentrum-Netzwerk verbunden werden sollen. 

Den Hinweis auf die Geschichte Jan Palachs gab Vojtěch Kyncl. Der Historiker hat unter anderem in Jena studiert und ist heute Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Prag, die zum Netzwerk des Zukunftszentrums gehören soll. Im Vorgespräch mit ihm wurde deutlich, wie wichtig es ist, diese Verbindungen auszubauen, um auch die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit zu bewahren. In Tschechien, erklärt Vojtech, wurde diese Freiheit jüngst massiv bedroht. 

Text und Fotos: Christian Faludi

23. Etappe: Paneuropäisches Picknick, Ungarn/Österreich 

Bereits Monate bevor die Grenzen am 9. November in Berlin geöffnet wurden, durchbrachen DDR-Bürger anlässlich des Paneuropäischen Picknicks am 19. August ein Grenztor an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron. Ihnen folgten mehrere Wellen Flüchtender. Insgesamt wagten an diesem Tag bis zu 700 DDR-Bürger:innen den Grenzübertritt. 

Das Paneuropäische Picknick war Teil der Prozesskette, die im Jahr 1989 zum Fall der Berliner Mauer führte. Auch wenn seine tatsächliche Relevanz oft überschätzt wird, die politischen Ereignisse in Ungarn in den Jahren vor 1989 sind für den Fall des Eisernen Vorhangs und damit auch für den Transformationsprozess in Ostdeutschland ein zentraler Bestandteil.  

Ungarn war weitaus liberaler als etwa die DDR oder ČSSR. An den Stränden des Balaton trafen sich west- und ostdeutsche Urlauber. 1988 teilte das Land den sogenannten Weltpass an seine Bürger:innen aus, mit dem diese international frei reisen konnte. 1989 trat Ungarn als erstes Land des Warschauer Pakts der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Bereits Monate vor dem Paneuropäischen Picknick begann Ungarn den Grenzzaun nach Österreich abzubauen. Die Instandsetzung war der Regierung schlichtweg zu teuer. 

Derweil gründeten sich Demokratische Foren. In ihnen entstand die Idee eines Paneuropäischen Picknicks, einer symbolischen Öffnung der Grenze. Mit dieser wollten die Oppositionellen testen, wie weit sie gehen könnten, bevor die sowjetische Armee einschreiten würde. Schließlich stand trotz aller Entwicklungen die Befürchtung im Raum, dass sich die Ereignisse von 1956 wiederholen könnten.  

Flugzettel wurden verteilt, auch an DDR-Urlauber am Balaton. Etliche verstanden die Botschaft und machten sich auf dem Weg nach Sopron. Den Durchbruch wagte hingegen nur ein Bruchteil. Schließlich war die Gefahr längst nicht gebannt. Am 20. August 1989 wurde der Weimarer Architekt Kurt-Werner Schulz beim Versuch des Grenzübertritts nahe Sopron erschossen. Er war das letzte Todesopfer des Kalten Krieges.  

An der Ungarisch-Österreichischen Grenze treffen wir Wolfgang Bachkönig. Er war 1989 Polizist der Republik Österreich und hat die Ereignisse miterlebt. Am Ort des Geschehens berichtet er, wie Ungarn und Österreicher damals gemeinsam geholfen haben. Diese Solidarität und Verbundenheit ist es, auf die eine Europäische Transformation – und ein Zukunftszentrum in Jena – aufbauen müssen.  

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

22. Etappe: Grenzzaun, Kroatien/Slowenien 

Im Jahr 2015 flohen über 760.000 Menschen auf verschiedenen Balkanrouten unter inhumanen Bedingungen von der Türkei über Griechenland nach Zentraleuropa. Die meisten Länder in Südosteuropa blieben dabei Durchgangsstation; in den wenigsten wurden die Geflüchteten entsprechend registriert. Als Reaktion darauf errichtete Slowenien einen über 200 Kilometer langen und bis zu vier Meter hohen Grenzzaun. Seit einigen Wochen wird die Barriere auf Bestreben der neuen Regierung wieder abgebaut. Wer vor dem Regierungswechsel gegen den Zaun aktiv geworden war, konnte mit bis zu fünf Jahren Haft belangt werden. 

Wir fahren beinahe allein auf Serpentinen durch die friedliche Berglandschaft im kroatisch-slowenischem Grenzgebiet nordwestlich von Zagreb. Auf unserer Reise haben wir bislang viele, mitunter gut bewachte Grenzen überquert. Manche davon waren auch für uns nur mit Mühe überwindbar. Mit einem drei bis vier Meter hohen Stacheldrahtzaun mitten in der Europäischen Union, im Schengenraum, der den freien Übertritt ins Ausland erleichtern soll, an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien, rechnet allerdings niemand mehr – auch wir nicht. Aber er existiert, wenngleich das Tor, das wir passieren, mittlerweile wieder offensteht.  

Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass noch vor wenigen Jahren abertausende Menschen über diese Berge liefen – getrieben von Armut und Krieg. Aber die Fluchtbewegungen in Richtung Zentraleuropa werden aus vielfältigen Gründen auch in der Zukunft weitergehen. Und während der slowenische Grenzzaun demnächst wieder zurückgebaut werden wird, errichten Länder an anderer Stelle in der Europäischen Union neue Barrieren. So kündigte etwa Ungarn jüngst an, den Zaun an der serbischen Grenze zu verstärken und eine ‘Grenzjäger’-Einheit zu bilden, die Übertritte verhindert. 

Ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena muss sich auch der jüngeren Transformationsgeschichte annehmen, die durch Migrations- und Fluchtbewegungen bestimmt ist. Zudem muss es den Kontakt zu den betroffenen Menschen suchen, um auf Basis vielfältiger Erfahrungen nach gemeinsamen Lösungen für die Herausforderungen unserer Zukunft zu suchen. Und es muss den Dialog fördern zwischen Menschen, die bei uns leben und denen, die zu uns kommen. Eine Brücke können hierbei die zahlreichen Fluchtgeschichten ehemaliger DDR-Bürger sein. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Foto: Christian Faludi 

21. Etappe: Gedenkstätte Jasenovac, Kroatien

Im engeren Sinne sind die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Shoah kein Thema, das unmittelbar im Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation eine Rolle spielt. Aus erinnerungskultureller wie auch erinnerungspolitischer Perspektive kommen wir an der Gedenkstättenarbeit in Ost- und Mitteleuropa aber nicht vorbei. Das wird insbesondere auf dem Balkan deutlich, dessen lange Konfliktgeschichte bis heute nachwirkt. Und so ist es nur konsequent, dass wir auf unserem Weg durch Kroatien die Gedenkstätte Jasenovac besuchen. 

Das KZ Jasenovac war das größte, während des Zweiten Weltkrieges vom Ustascha-Regime gebaute und unabhängig von Deutschland betriebene Lager auf dem Gebiet des Unabhängigen Kroatiens. Die hierhin Deportierten gehörten zumeist der serbischen Bevölkerung an, hinzu kamen Rom:nja, jüdische Menschen sowie andere Minderheiten, vereinzelt wurden auch bosnische wie kroatische Regimegegner:innen nach Jasenovac verschleppt. Bis 1945 verloren in dem Konzentrationslager mehr als 80.000 Menschen ihr Leben. 

Zwischen 1959 und 1966 entstand auf dem Gelände ein imposantes Denkmal des Bildhauers Bogdan Bogdanović in Form einer gigantischen Lotusblüte. Zwei Jahre später eröffnete hier ein Museum. Seither sammelt die Gedenkstätte Material, betreut Denkmäler weiterer Ustascha-Lager und arbeitet mit Jugendlichen im Bereich der historisch-politischen Bildung.  

Die Gedenkstättenarbeit verbindet Menschen an den zahlreichen Schauplätzen der Shoah in Ost- und Mitteleuropa. Und sie zeigt, welche Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen, um die Erkenntnisse für die Gestaltung unserer Demokratien nutzbar zu machen. 

Text und Fotos: Christian Faludi 

20. Etappe: Republik Srpska, Bosnien-Herzegowina

Die Republik Srpska ist ein nach (vollständiger) Autonomie bzw. nach Angliederung an das Nachbarland Serbien strebender Gliedstaat im System des Staatenverbundes von Bosnien und Herzegowina. Laut Verfassung befindet sich seine Hauptstadt in Sarajevo. Tatsächlich bildet Banja Luka im Norden das politische Zentrum der Republik Srpska. Hier sitzen das Parlament, die Regierung und der Ministerpräsident. Mehr als 80 Prozent der Einwohner sind Serben, rund 14 Prozent sind Bosniaken. Hinzu kommen zu circa 5 Prozent Kroaten und weitere Minderheiten. 

Die Besonderheit des bosnischen Staatenverbundes ist ein Produkt der Transformation Jugoslawiens und der darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen sich in diesem Landesteil Serben, Kroaten und Bosniaken bekämpften. Beigelegt wurde der Konflikt im Vertrag von Dayton 1995, durch den zwei Entitäten unter dem Dach eines Staatenbundes entstanden: Die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republik Srpska. Beide teilen sich das Staatsgebiet zu fast gleichen Teilen, wobei stark von sogenannten ethnischen Säuberungen betroffene Landesteile wie Srebrenica auf dem Teil Srpskas liegen. Hinzu kommt mit dem Brčko-Distrikt eine de facto selbstverwaltete Zone im Nordosten des Landes. 

Wenngleich die Bevölkerungsgruppen der Bosniaken und Serben in ihrem Staatenverbund mit derselben Währung, der Konvertiblen Mark, bezahlen und die Autos dasselbe Symbole auf ihren Kennzeichen haben, sind die Trennlinien zwischen beiden Entitäten deutlich sichtbar. So säumen nicht nur allein die Flaggen in den serbischen Nationalfarben allerorten das Straßenbild der Republik Srpska, das Land hat auch eine eigene Hymne nebst Wappen und mit dem zumeist verwendetem Kyrillischen sogar eine eigene Schrift.  

Auf politischer Ebene dominierte lange Zeit nach dem Krieg die radikal-nationalistische Srpska Demokratska Stranka (Serbische Demokratische Partei) das Geschehen. Zuletzt forderte diese 2008 ein Referendum zur Loslösung der Republik Srpska. Ende des vergangenen Jahres nahmen die separatistischen Bestrebungen erneut Fahrt auf. Unter anderem beschloss das von serbischen Interessen dominierte Parlament in Banja Luka im Dezember die Abkopplung des Landes aus dem Justiz- und Steuersystems sowie aus der Armee des Staatenverbundes von Bosnien und Herzegowina. 

Text & Foto: Christian Faludi

19. Etappe: Dubica, Bosnien-Herzegowina

Als ich Edina und Edita in der Innenstadt von Dubica treffe, stehe ich noch unter den Eindrücken in Srebrenica. Editha nimmt das unmittelbar zum Anlass, sich „zu beschweren“, dass wir zu wenig auf die positiven Entwicklungen im Land blicken. Und so erzählt sie mir etwa davon, dass der bosniakische Sohn einer Freundin unlängst in Srebrenica eine Musikschule eröffnet hat, in die Kinder aller Bevölkerungsteile kommen, zusammen musizieren und Fahrten ins Ausland machen.  

Während unseres Spaziergangs durch das Städtchen berichten beide viele solcher Geschichten, und sie lachen sehr oft. Das ist wohl dieser Optimismus, den es braucht, um hierhin zurückzukehren und das Martyrium zurückzulassen, das beide erleben mussten. Schließlich handeln ihre Fluchtgeschichten (wie so viele andere auch) vom anfänglichen Unglauben darüber, dass ein Krieg zu ihnen kommen könne – bis die örtliche Brücke Richtung Kroatien gesprengt worden ist. Sie handeln von dem Ringen um eine Ausreise aus der Heimat und von der Angst in vollgepferchten Bussen, in denen Soldaten den Menschen ihren Schmuck stehlen. Und sie handeln von einer langen Odyssee, die sie nach Deutschland brachte, wo sie nicht nur auf Menschen trafen, die helfen wollten. 

Auf die Frage, ob sie den glücklich mit der Entscheidung sind, wieder in die Heimat zurückgekehrt zu sein, antworten beide entschieden mit ja. Aber das alles sei es Wert, in Kauf genommen zu werden, um in der Heimat zu leben. Der Wunsch beider Schwestern ist es, dass ihr Land geeint wird und alle Bevölkerungsteile die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben. Im Moment scheinen sie davon noch weit entfernt zu sein. 

Text & Foto: Christian Faludi

18. Etappe: Massaker von Srebrenica, Bosnien-Herzegowina

Das Massaker von Srebrenica gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 8.000 Bosniaken, vor allem Männer und Jungen, wurden von der Armee der Republik Srpska unter der Führung von Ratko Mladić ermordet. Die unmittelbar in das Geschehen involvierten holländischen Blauhelm-Soldaten verhinderten die Morde nicht. 

Heute besuchen wir das Srebrenica Memorial Center in Bosnien-Herzegowina. Dort begrüßt uns die Gedenkstättenmitarbeiterin Almasa Salihović. Sie erzählt uns von den Verbrechen der Armee der Republika Srspka in und um Srebrenica: Als die bosnisch-serbischen Truppen vom 6. bis 11. Juli 1995 in die Schutzzone der UNOPROFOR-Einheiten einmarschierten und Srebrenica besetzten, flohen rund 25.000 Bosniaken nach Potočari und suchten bei den Blauhelm-Soldaten Schutz. Insbesondere die jungen Männer fürchteten jedoch auch hier ihre Ermordung. Sie planten, gemeinsam mit den älteren und einigen Frauen und Kindern, ihre Flucht durch die Wälder Richtung Tuzla in bosniakisch kontrolliertes Gebiet. Der Zug mit geschätzt 10.000 bis 15.000 Flüchtenden setzte sich in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli in Bewegung. Lediglich ein Drittel gelangte in sicheres Terrain. Die Anderen wurden in Hinterhalten – bei denen die bosnisch-serbischen Einheiten sich teils als UN-Soldaten ausgaben – direkt erschossen oder gefangen genommen und anschließend ermordet. 

In Potočari wurden die bosnischen Flüchtlinge in Bussen in evakuiert, wobei die bosnisch-serbischen Truppen die Männer – unter ihnen auch viele Jungen – selektierten und ebenfalls ermordeten. Die Verbrechen wurden anschließend systematisch vertuscht, indem die Leichen, mitunter in Einzelteilen, an verschiedenen Orten in Massegräbern verscharrt wurden. Bis heute werden die gefundenen Überreste anhand von DNA-Proben identifiziert und auf dem angrenzenden Friedhof bestattet. Die Angehörigen können oft nur einzelne Teile der Körper ihrer Familienmitglieder begraben. Werden neue Teile gefunden, werden die Gräber auf Wunsch wieder geöffnet. Viele Menschen werden bis heute vermisst. Zahlreiche Angehörige sind nach wie vor auf der Suche nach ihren Familienmitgliedern. 

Almasa erzählt uns, dass in der Republik Srpska und in Serbien der Genozid bis heute weitgehend geleugnet wird, und welchen Schmerz diese Ignoranz für die Angehörigen und Mitarbeitenden der Gedenkstätte – die sich in mehrheitlich von Serben bewohntem Gebiet befindet – bedeutet. Besonders in den sozialen Medien verbreitete Falschinformationen bereiten ihr aktuell große Sorgen. Nicht ohne Grund wird das Areal auch ständig von Polizisten bewacht. Um Barrieren abzubauen und zugleich die Geschichte zu dokumentieren, sammelt Almasa mit ihren Kolleg:innen in einem Oral-History-Archiv Interviews von Zeug:innen und gibt ihnen die Gelegenheit, die Lebensläufe der ermordeten Familienmitglieder zu erzählen. Die Gedenkstätte ist auf der Suche nach Partnern und finanzieller Unterstützung, um ihre Arbeit fortzusetzen (https://srebrenicamemorial.org/en). Ein Zukunftszentrum in Jena kann sowohl wissenschaftlich unterstützen als auch von den gesammelten Quellen profitieren. Einer Kooperation steht man in Srebrenica offen gegenüber. 

Unter dem Eindruck der Erzählungen Almasas erkunden wir anschließend das Areal mit seinen bemerkenswerten Ausstellungen, die unter anderem in den Hallen einer ehemaligen Batteriefabrik untergebracht sind. Auf dem Friedhof treffen wir ein Paar aus Deutschland und kommen kurz ins Gespräch. Sie stammt von hier, floh während des Massakers und sucht jetzt – 27 Jahre später – auf der Gedenkmauer nach dem Namen ihres ermordeten Bruders. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi

17. Etappe: Bombardierung Belgrad, Serbien

Nach unserem Besuch im Museum Jugoslawiens erkunden wir Belgrad. Die Spuren der Bombardierung durch die NATO im Jahr 1999 prägen bis heute das Stadtbild. Es war der erste Einsatz der NATO ohne UN-Mandat und der erste Kampfeinsatz deutscher Truppen seit 1945. 

Wir stoßen auf das Gebäude des damaligen Generalstabs, das bewusst in dem zerstörten Zustand nach seiner Bombardierung belassen worden ist. An seiner Fassade ist ein gigantisches Banner mit Werbung für die serbische Armee aufgehängt. An der Kreuzung davor befindet sich ein weiteres Banner, auf dem (frei übersetzt) steht: „Serbien ohne Kosovo ist wie ein Mensch ohne Herz.“ 

Bei den Luftangriffen – die als Reaktion der Verbrechen der serbischen Armee im Kosovo und in Albanien stattfanden – wurden militärische Ziele getroffen; es kamen aber auch ungefähr 500 Zivilisten ums Leben. Weit mehr wurden verletzt und/oder traumatisiert. Bis heute wird der Einsatz kontrovers diskutiert. Die Bilder vom Angriff sind Teil des kollektiven Gedächtnisses – jedoch wurde vieles noch nicht aufgearbeitet. Ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Jena muss sich auch dieser Periode der europäischen Geschichte widmen – die bis heute nicht nur die politischen Beziehungen zu den Partnern in Südosteuropa, sondern auch die Biografien der Menschen hier und in ganz Europa bestimmt. In Jena möchten wir uns der Thematik annehmen, auch wenn sie schwierig ist und vor allem in den betroffenen Ländern des Balkans bis heute tiefe Wunden verursacht – was an unserer nächsten Station in Srebrenica noch deutlicher wird. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

16. Etappe: Museum Jugoslawiens, Serbien

In Belgrad besuchen wir das Museum der Geschichte Jugoslawiens, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, der selbst eine bewegte Geschichte hinter sich hat. 

Ursprünglich war auf dem Gelände die Residenz von Tito. Heute beherbergt das 1975 als Wintergarten errichtete Blumenhaus seinen Leichnam in Form eines Mausoleums, das von zwei kleinen – sehr modernen – Ausstellungen flankiert wird. Das bereits 1962 errichtete Museum für die Geschenke Titos zeigt heute Wechselausstellungen, aktuell wird jedoch die Fassade renoviert. Die Geschenke, die der jugoslawische Partisanenführer und spätere Präsident aus dem In- und Ausland erhalten hat, werden – zusammen mit den Exponaten aus dem ehemaligen Museum der Revolution – im alten Depot ausgestellt. Viele Exponate wirken mittlerweile skurril. Unter anderem befindet sich hier eine Flagge Jugoslawiens, welche die Astronauten von Apollo 11 mit auf den Mond nahmen und die Tito während einer Reise in die USA von Richard Nixon überreicht bekam. Ebenfalls im Alten Museum ausgestellt sind Exponate aus dem ehemaligen Museum der Revolution – zusammen mit zeitgenössischen Installationen von Künstler:innen. 

Nach dem Tod Titos zog Slobodan Milošević in die Residenz. 1999 zerstörte die NATO das Gebäude, um den serbischen Nationalisten gezielt zu treffen. Milošević entkam und zog anschließend in ein Nachbarhaus um. 2001 wurde er dort verhaftet und nach Den Haag gebracht, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Heute trennt eine Mauer das Regierungsareal vom Museumskomplex. 

Während unseres Aufenthaltes ist das Museum geschlossen, aber wir können die Mitarbeiterin Mirjana Slavković treffen, die uns über das Gelände und durch die faszinierenden Ausstellungen führt.  Sie war im Rahmen des Exhibiting Contemporary History Programms des Europäischen Kollegs der Friedrich-Schiller-Universität bereits in Jena und kennt die Stadt gut. Wir erzählen von unserer Bewerbung für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation und unserer Reise durch Mittel- und Osteuropa. Das Museum könnte – auch als Forschungs- und Bildungseinrichtung und seinen Kooperationen mit Künstler:innen der Gegenwart – ein möglicher Partner für das Zukunftszentrum in Jena sein. Mirjana Slavković jedenfalls wünscht uns viel Erfolg für unsere Bewerbung. 

Text: Tobias Schwessinger & Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi 

15. Etappe: Demografischer Wandel, Bulgarien

Wir durchqueren den Norden Bulgariens von Ost nach West, auf den letzten 100 Kilometern mehr auf Schotter, als auf Asphalt. Überall – an den Häusern, Bushaltestellen, Laternenmasten oder Bäumen – sehen wir Zettel, mit den Bildern und Namen von Verstorbenen. Der Grund ist ein orthodoxer Brauch, mit dem der Tod eines Nahestehenden öffentlich angezeigt wird. Währenddessen sind die Straßen fast menschenleer. Die meisten Gebäude sind zerfallen; viele auch verlassen. Die Szenerie wirkt beinahe surreal. 

Vor allem der Nordwesten Bulgariens ist durch einen tiefgreifenden demografischen Wandel gekennzeichnet. Fast nirgendwo sonst auf der Welt schrumpft die Bevölkerung so schnell wie in dieser Region. Während hier 1989 noch knapp 9 Millionen Menschen gelebt haben, sind es heute weniger als 7 Millionen. Laut Schätzungen der UNO werden es 2050 nur noch knapp 5 Millionen sein, beinah die Hälfte. 

Der Nordwesten ist die ärmste Region im ärmsten Land der Europäischen Union. Die Menschen, vor allem die jüngeren Generationen, haben hier kaum Perspektiven für die Zukunft. Wer kann, zieht weg. Zurück bleiben vor allem die Alten. Deswegen ist die Mortalitätsrate hier vergleichbar mit jener in Kriegsgebieten. 

Diese Form des demografischen Wandels betrifft nicht allein Bulgarien. Seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Systemwechsel haben schätzungsweise 12 bis 15 Millionen Osteuropäer:innen ihre Heimat verlassen, der größte Teil in die Länder des Westens. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen gehen weg, so arbeitet nach Schätzungen jeder sechste in Bosnien-Herzegowina ausgebildete Arzt in Deutschland. 

Diese im weltweiten Vergleich kaum zu überbietende Veränderung hinterlässt tiefe Wunden in den Heimatländern der Weggezogenen, die ihren Einwohner:innen kaum noch Perspektiven bieten können. Langfristige Strategien zur Lösung dieser Entwicklung, die die Länder in Mittel- und Osteuropa massiv verändert, gibt es kaum. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

Weiterführende Informationen:

https://balkaninsight.com/2020/01/13/time-for-policy-change-on-western-balkans-emigration/

https://www.nzz.ch/international/bulgarien-entvoelkerung-ist-das-demografische-problem-osteuropas-ld.1529941

14. Etappe: Tombul-Moschee, Bulgarien

Die Kultur im im südöstlichen Europa ist stark durch den Islam geprägt. Bulgarien hat innerhalb der Europäischen Union mit 10 bis 13 Prozent den größten muslimischen Bevölkerungsanteil, obwohl hier kurz vor dem Zusammenbruch des Staatssozialismus rund 370.000 Muslime in Richtung Türkei vertrieben wurden.  

Wir besuchen die Tombul-Moschee in Schumen. Bis zur politischen Wende 1989/90 diente die größte Moschee Bulgariens und die zweitgrößte Moschee der Balkanhalbinsel als Museum. Heute wird hier wieder gebetet und in den angeschlossenen Schulen unterrichtet. In Schumen sind 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung Muslime. 

Wir werden in der Tombul-Moschee sehr herzlich begrüßt und dürfen den Gebetsraum und den Innenhof besichtigen. Die Anlage ist klein aber wunderschön. Leider können wir uns kaum mit Worten verständigen, sodass ein Gespräch unmöglich ist. Am Ende kaufen wir noch zwei Misbaha als Andenken, bevor wir unsere Tour durch den Norden Bulgariens fortsetzen. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

13. Etappe: National-Denkmal, Bulgarien

Unsere erste Station in Bulgarien ist das „Denkmal zur Gründung des bulgarischen Staates“ in Schumen, ein Betonklotz mit gigantischen Ausmaßen. Eröffnet wurde es 1981 aus Anlass des 1300. Jahrestages der Gründung Bulgariens. 

Das Denkmal auf einem Berg ist bereits auf unserer Anfahrt aus mehr als 20km Entfernung zu sehen. Allein der Löwe an der Spitze wiegt 1000 Tonnen. Für den Bau wurden 2300 Kubikmeter Erde ausgehoben und 2400 Tonnen Verstärkungsstäbe sowie 50.000 Kubikmeter Beton verarbeitet. Das in die Wände eingelassene Mosaik ist das größte Freiluft-Triptychon Europas. 

Der Stolz auf die eigene Nation und deren Geschichte bestimmt auch die heutige Politik in Bulgarien massiv. Der Systemwechsel in Bulgarien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus geschah vergleichsweise ruhig. 1988 leitete das Land einen Reformkurs ein. Mitte November 1989 gab es erste Massenproteste, aus denen eine demokratische Oppositionsbewegung resultierte. Nach freien Wahlen entstand 1990 die Republik Bulgarien.  

Einen Sonderweg beschritt das Land 2001, als der aus dem Exil heimgekehrte ehemalige Zar Simeon II. von Sachsen Coburg und Gotha mit der „Nationalen Bewegung“ die Wahlen zum Ministerpräsidenten gewann. Er ist bis heute der einzige in Europa abgesetzte Monarch, der auf demokratischen Weg die politische Macht zurückerlangen konnte. 2004 trat Bulgarien der NATO und 2007 der Europäischen Union bei, ist aber bis heute kein Mitglied des Schengen-Raums.  

Text: Tobias Schwessinger/Christian Faludi 

Fotos: Christian Faludi