15. Etappe: Demografischer Wandel, Bulgarien

Wir durchqueren den Norden Bulgariens von Ost nach West, auf den letzten 100 Kilometern mehr auf Schotter, als auf Asphalt. Überall – an den Häusern, Bushaltestellen, Laternenmasten oder Bäumen – sehen wir Zettel, mit den Bildern und Namen von Verstorbenen. Der Grund ist ein orthodoxer Brauch, mit dem der Tod eines Nahestehenden öffentlich angezeigt wird. Währenddessen sind die Straßen fast menschenleer. Die meisten Gebäude sind zerfallen; viele auch verlassen. Die Szenerie wirkt beinahe surreal. 

Vor allem der Nordwesten Bulgariens ist durch einen tiefgreifenden demografischen Wandel gekennzeichnet. Fast nirgendwo sonst auf der Welt schrumpft die Bevölkerung so schnell wie in dieser Region. Während hier 1989 noch knapp 9 Millionen Menschen gelebt haben, sind es heute weniger als 7 Millionen. Laut Schätzungen der UNO werden es 2050 nur noch knapp 5 Millionen sein, beinah die Hälfte. 

Der Nordwesten ist die ärmste Region im ärmsten Land der Europäischen Union. Die Menschen, vor allem die jüngeren Generationen, haben hier kaum Perspektiven für die Zukunft. Wer kann, zieht weg. Zurück bleiben vor allem die Alten. Deswegen ist die Mortalitätsrate hier vergleichbar mit jener in Kriegsgebieten. 

Diese Form des demografischen Wandels betrifft nicht allein Bulgarien. Seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Systemwechsel haben schätzungsweise 12 bis 15 Millionen Osteuropäer:innen ihre Heimat verlassen, der größte Teil in die Länder des Westens. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen gehen weg, so arbeitet nach Schätzungen jeder sechste in Bosnien-Herzegowina ausgebildete Arzt in Deutschland. 

Diese im weltweiten Vergleich kaum zu überbietende Veränderung hinterlässt tiefe Wunden in den Heimatländern der Weggezogenen, die ihren Einwohner:innen kaum noch Perspektiven bieten können. Langfristige Strategien zur Lösung dieser Entwicklung, die die Länder in Mittel- und Osteuropa massiv verändert, gibt es kaum. 

Text: Tobias Schwessinger 

Fotos: Christian Faludi 

Weiterführende Informationen:

https://balkaninsight.com/2020/01/13/time-for-policy-change-on-western-balkans-emigration/

https://www.nzz.ch/international/bulgarien-entvoelkerung-ist-das-demografische-problem-osteuropas-ld.1529941